Tadeusz Różewicz
So lange formte ich mich
zum bild und ebenbild
des nichts
formte dieses antlitz
zum bild und ebenbild
von allem
endlich vermischen sich die züge
meine worte
bestaunen einander nicht mehr
nichts gebiert nichts
nichts zieht nichts groß
nichts lebt üppig im nichts
... nichts verurteilt
nichts begnadigt
Tadeusz Różewicz (9. Oktober 1921 - 14. April 2014)
Wisława Szymborska // Ereignis
Himmel, Erde, Morgen,
die Uhr zeigt acht Uhr fünfzehn.
Ruhe und Frieden
im vergilbten Gras der Savanne.
In der Ferne ein Ebenholzbaum
mit immergrünen Blättern
und ausladenden Wurzeln.
Plötzlich wird die süße Stille gestört.
Zwei Wesen, die leben wollen, sind losgelaufen.
Eine Antilope auf wilder Flucht,
hinter ihr eine Löwin, atemlos, hungrig.
Für einen Moment sind die Chancen gleich.
Die Fliehende ist sogar ein wenig im Vorteil.
Und hätte nicht diese Wurzel
aus der Erde geragt,
wäre nicht einer
der vier Hufe gestolpert,
wäre sie nicht eine Viertelsekunde
aus dem Rhythmus gekommen,
was die Löwin ausnutzt
mit einem weiten Sprung -
Auf die Frage, wer schuld sei,
nichts, nur Schweigen.
Unschuldig der Himmel, circulus coelestis.
Unschuldig terra nutrix, die Ernährerin Erde.
Unschuldig tempus fugitivum, die Zeit.
Unschuldig die Antilope, gazella dorcas.
Unschuldig die Löwin, leo massaicus.
Unschuldig der Ebenholzbaum, diospyros mespiliformis.
Und der Beobachter mit dem Fernrohr vor den Augen,
in Fällen wie diesem,
homo sapiens innocens.
Wisława Szymborska (2. Juli 1923 - 1. Februar 2012; Nobelpreis für Literatur 1996)